Ehrlicherweise muss vorausgeschickt werden, dass wir im Nachhinein nicht mehr ganz genau bestimmen können,
ob es tatsächlich ein Uhu war. Damals haben wir sofort im Vogelbuch nachgeschaut. Wenn ich heute Fotos betrachte, muss ich gestehen,
dass es auch ein Waldkauz gewesen sein könnte. Aber der ist eigentlich zu klein. Auch ein Steinkauz ist kleiner. Das heißt, von der
Größe her war es eindeutig ein Uhu!
Und die Geschichte ist die: Es war ein schöner warmer Sommertag, und ich hatte schon am frühen Morgen die Liegen
unter den Apfelbäumen aufgestellt, um im Schatten ruhen zu können. Was ich ausgiebig tat, und zwar nackt.
Als wir dann auf der Terrasse Mittag aßen, fiel uns ein großer Ast an einem der Apfelbäume auf, den wir bisher nicht
wahrgenommen hatten. Fast zur gleichen Zeit machten wir uns auf diese uns seltsam vorkommende Erscheinung aufmerksam, wobei ich noch hinzufügte,
dass ich nicht verstehen könne, wie ich solch hässlichen Stumpf am Baum im Frühjahr hatte stehen lassen können. Das Eigenartige an diesem Ast
war, dass er senkrecht nach oben ragte. Aber dann wechselte das Thema am Mittagstich, und wir aßen erst einmal gemütlich.
Danach allerdings reizte es mich, den seltsamen Ast näher in Augenschein zu nehmen. Welch Überraschung! Da saß ein
riesiger Vogel im Apfelbaum! Und zwar genau über der Stelle, an der ich am Morgen nackt auf dem Liegestuhl gelegen hatte. Er schlief ganz
offenkundig, denn er hatte die Augen geschlossen. Als ich aber um ihn herumging, bewegte er seinen Kopf. Er beobachtete mich! Und zu dem
Zweck vermochte er seinen Kopf um 180 Grad zu drehen! Wir waren weg und alle! Das hatte es in unserem Garten noch nicht gegeben!
Natürlich wurde entschieden, den Vogel in Ruhe zu lassen. Was er offenbar akzeptierte, denn er schlief weiter. Nun
konzentrierte sich unser Interesse auf die Frage, wann er wohl davonfliegen würde. Noch vor Einbruch der Dunkelheit nahmen wir daher auf
unserer Terrasse Platz, um den Moment nicht zu verpassen. Und tatsächlich! Er öffnete die Augen, schaute um sich. Die Spannung stieg. Und
schneller als wir denken konnten, war er weg! Wir rekapitulierten, indem wir unsere Eindrücke austauschten. Kurz: Er hatte plötzlich die Flügel
geöffnet und war lautlos knapp über die Hecke hinweg in Richtung Wald verschwunden. Und ward nie wieder gesehen.
Und was hatte uns die Ehre seines Besuches verschafft? Wir können es nur vermuten. Nach Tagen erfuhren wir, dass der
Nachbar sein Zwergkaninchen vermisste... Und natürlich war ich froh, dass der Uhu meine Nacktheit nicht missverstanden hatte...